Pranayama – weit mehr als yogische Atemtechniken

Bhoga-Yoga Krefeld zu Yoga und Geist – Pranayama, yogische Atemtechniken, am MeerEin Tag am Meer – einatmen, ausatmen... Mit Pranayama (ATEM-)Bewusstsein kultivieren Image © by Tatjana Obermann

Einatmen, ausatmen… Der Atem fließt doch ganz von alleine, warum dann Atemübungen bzw. Pranayamas? Weil wir uns mit der Pranayama-Praxis von diesem unbewussten Ablauf befreien, indem wir zum Atem eine Beziehung aufbauen. Und weshalb wir mit Pranayamas weit mehr als yogische Atemtechniken praktizieren, erfährst du in diesem Beitrag.

Die Bedeutung des Atems im Yoga

Der Atem ist die Quelle unseres Lebens: mit der ersten Einatmung – der Geburt – kommt das Leben, mit der letzten Aus­atmung – dem Tod – geht es. Eine tiefe und vollständige Atmung lässt unser Bewusstsein erwachen! Wir spüren mehr, denn unsere Sinne werden feiner. Diese Verfeinerung der Sinne fördert die Selbst­erkundung und somit die Selbsterkenntnis. Atmet man nicht bewusst, verliert man die Verbindung zu sich selbst!
Schon in den Upanishaden (Sanskrit: upaniṣaden), den ältesten Yogaschriften bzw. vedischen Offenbarungstexten, erfahren wir von der Bedeutung – oder besser ausgedrückt – von der Bedeutsamkeit des Atems. Die Upanishaden suchen nach Antworten auf die grundlegendsten Fragen menschlicher Existenz – das Ziel aller Fragen ist die Selbsterkenntnis. Daher ist die Frage nach dem Atman (Sanskrit: ātman), dem wahren Selbst bzw. absoluten Grund des Menschen, welches wir meist mit dem Ego verwechseln, das Hauptthema der Upanishaden. In der Bṛhadāraṇyaka Upaniṣad (III.7) steht über den Atman und den Atem folgendes: „Worin bist du und dein ātman gegründet? Im Atem. (…).“ So lautet die Antwort. Der Atem ist also das wichtigste Mittel, um zu seinem wahren Selbst zu gelangen. Der Atem ist auch die für den Menschen zugänglichste Form von Prana, unserer Lebensenergie.

Pranayama in den Yoga-Sutras und im Hatha-Yoga

Prana (Sanskrit: prāṇa) ist Atem, Lebensenergieayama heißt ausdehnen. Pranayama (Sanskrit: prāṇāyāma) bedeutet den Atem zu verlängern und zu verfeinern.

Patañjali, der Verfasser der Yoga-Sūtras – eines wichtigen Yoga-Grundlagentextes, sagt (I.2): »yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ« – „Yoga ist die Beruhigung aller Bewegungen des Geistes.“ Unser Geist, der von Natur aus unruhig ist, soll durch Yoga zur Ruhe kommen. Hier kommt der Atem ins Spiel, der ein wichtiger Vermittler zwischen Körper und Geist ist. Wird die Atmung mittels Pranayama lang und fein, verlangsamt das auch den Rhythmus der Bewegungen des Geistes. Ein ruhiger Atem bedeutet somit ein ruhiger Geist!
Patañjali sagt weiter (II.50): „Pranayama hat drei Bewegungen: Einatmen, Ausatmen und Anhalten. Alle drei sind entweder lang oder fein (»dīrgha-sūkṣmaḥ«) und hängen von Ort, Dauer und Zählung ab.“ Wir sollen den Atem rhythmisieren, damit er lang und fein wird. Mehr über das WIE von Pranayama verrät uns Patañjali nicht, das erfahren wir jedoch im Hatha-Yoga (Sanskrit: haṭha-yoga).

Die beiden Schriften Haṭhapradīpikā und Gheraṇḍa Saṃhitā geben uns die Werkzeuge für den Hatha-Yoga an die Hand. Der Körper ist die Basis für den Yogaweg und muss durch āsanas (Körperhaltungen) und kriyās (Reinigungshandlungen) vorbereitend gekräftigt und gereinigt werden. Nadi-Shodhana (Sanskrit: nāḍī-śodhana), die Wechselatmung, heißt „Reinigung der Känale“. Sie reinigt nicht nur physisch sondern auch energetisch, indem die feinstofflichen Energiekanäle (nāḍīs) von Blockaden befreit werden.

Nadi-Reinigung zum Ausgleich der Energiekanäle

Die Haupt-Nadis heißen Sushumna-, Ida- und Pingala-Nadi (Sanskrit: suṣumnā-, idā- und pingalā-nāḍī). Die Sushumna-Nadi ist der zen­trale und wichtigste feinstoffliche Energiekanal. Ida-Nadi ist der linke feinstoffliche Energiekanal und wird auch Kanal der Mond­energie genannt – er ist weiblich und wirkt kühlend. Pingala-Nadi ist der rechte feinstoffliche Energiekanal und wird auch als Kanal der Sonnenenergie bezeichnet – er ist männlich und wirkt wärmend. Alle drei Kanäle haben ihren Ursprung an der Basis der Wirbelsäule. Ida- und Pingala-Nadi winden sich spiralförmig um die Sushumna-Nadi die Wirbelsäule hinauf. In den Nadis fließt Prana, unsere Lebensenergie. Sind sie blockiert, kann Prana nicht fließen und es kommt zu einem energetischen Ungleichgewicht. Solche Blockaden müssen durch die Nadi-Reinigung gelöst werden. Das Ziel ist die energetischen Polaritäten Ida- und Pingala-Nadi auszugleichen. Mit deren Ausgleich wird die Sushumna-Nadi aktiv und die Lebensenergie kann in diesem Kanal aufsteigen.

Durch verschiedene Pranayama-Techniken (jeweils acht – sowohl in der Haṭhapradīpikā als auch in der Gheraṇḍa Saṃhitā) können wir die frei fließende Lebensenergie schließlich in uns erfahren. Da die Energieerfahrung befreiend auf den Geist wirkt, ist sie gleichzeitig eine Bewusstseinserfahrung kraft derer sich das Bewusstsein stufenweise entfalten kann.

Das Ziel von Pranayana bzw. Yoga

Die Lehre von Patañjalis Yoga-Sūtras ist geistig orientiert: er möchte mittels Pranayama den Geist zur Ruhe bringen. Der Hatha-Yoga ist energetisch orientiert: er möchte mittels Pranayama die Polaritäten der Lebens­energie ausgleichen, was ebenfalls beruhigend auf den Geist wirkt. Laut beiden Lehren entwickelt sich so das Bewusstsein. Das Ziel ist die vollkommene Einheitserfahrung durch tiefste Selbsterkenntnis – im Yoga samādhi, die Vereinigung von Körper und Geist. Diesen Bewusstseinszustand der absoluten Ruhe, Klarheit, Freiheit und Freude gilt es zu kultivieren, daher übe Pranayama!

Prana, die Lebensenergie, zum Fließen bringen

Die Wechselatmung – Nadi-Shodhana

Die Wechselatmung ist leicht zu erlernen und sehr wirkungsvoll. Wie der Name schon verrät, atmet man abwechselnd nur durch ein Nasenloch ein und aus. Die Atmung über das rechte Nasenloch aktiviert Pingala-Nadi (Kanal der Sonnenenergie) und die Atmung über das linke Nasenloch aktiviert Ida-Nadi (Kanal der Mondenergie). Wie erläutert werden durch Nadi-Shodhana die Energiekanäle gereinigt und ausgeglichen, damit die Lebensenergie frei fließen kann.

So praktizierst du die Wechselatmung

  • Nehme eine aufrechte Sitzhaltung ein und schließe deine Augen.
  • Erde deine Basis und richte deine Wirbelsäule aus dem Becken heraus auf.
  • Bringe die rechte Hand in Vishnu-Mudra (Sanskrit: viṣṇu-mudrā, eine Handgeste), indem du Zeige- und Mittelfinger beugst (Daumen, Ringfinger und der kleine Finger bleiben entspannt).
  • Das rechte Nasenloch verschließt du mit deinem Daumen und atmest vollständig durch das linke Nasenloch ein.
  • Dann verschließt du das linke Nasenloch mit dem Ring- und kleinen Finger, löst den Daumen vom rechten Nasenloch und atmest rechts vollständig aus.
  • Atme nun umgekehrt so weiter – da wo du ausatmest, atmest du wieder ein und wechselst die Seite.
  • Praktiziere sechs Runden oder mehr – ganz nach Belieben.
  • Beende die Wechselatmung nachdem du links ausgeatmet hast und spüre nach.

Ohne Atempausen zwischen der Ein- und Ausatmung ist Nadi-Shodhana (wörtlich „Reinigung der Känale“) eine Kriya (Reinigungshandlung). Wenn du die Wechselatmung mit Atempausen zwischen der Ein- und Ausatmung praktizierst, wird sie zu einem Pranayama – sie heißt dann anuloma viloma.

Pranayama – (ATEM-)Bewusstsein kultivieren

Konntest du erfahren, dass eine lange und feine Atmung die Grundvoraussetzung für Ruhe ist? Mit Pranayamasbewusster Atmung – übst du nicht allein Atemausdehnung sondern auch Bewusstseinsausdehnung. Durch das bewusste Spüren verbindest du dich mit deinem Inneren und kannst deine Gefühle und Gedanken wertfrei beobachten. Du nimmst so Abstand von den Bewegungen deines Geistes und erfährst Ruhe bzw. Raum für Selbsterkenntnis. Atmest du nicht bewusst, verlierst du die Verbindung zu dir selbst! Achte daher auf deinen Atem – er ist dein bester Freund! Praktiziere Pranayama stets mit Selbstfürsorge und kultiviere einen langen und feinen Atem für mehr Bewusstsein – körperlich und geistig!

Namasté, deine Tatjana